Auslegung des "Geheimnisses" - Verein VORNE

Suchen
Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Auslegung des "Geheimnisses"

Chronik > Fatima Exerzitien 2017

Versuch einer Auslegung des "Geheimnisses" von Fatima

Der erste und der zweite Teil des Geheimnisses von Fatima sind von der Literatur schon so ausführlich diskutiert worden, daß sie hier nicht noch einmal ausgelegt werden müssen. Ich möchte nur in Kürze auf den springenden Punkt aufmerksam machen. Die Kinder haben einen schrecklichen Augenblick lang eine Vision der Hölle erlebt. Sie haben den Fall der "Seelen der armen Sünder" gesehen. Und nun wird ihnen gesagt, warum sie diesem Augenblick ausgesetzt wurden: "per salvarle" - um einen Weg der Rettung zu zeigen. Das Wort aus dem ersten Petrusbrief kommt einem in den Sinn: "Ziel eures Glaubens ist die Rettung der Seelen" (1,9). Als Weg dafür wird - für Menschen aus dem angelsächsischen und deutschen Kulturraum überraschend - angegeben: die Verehrung für das unbefleckte Herz Mariens. Zum Verständnis muß hier ein kurzer Hinweis genügen. "Herz" bedeutet in der Sprache der Bibel die Mitte der menschlichen Existenz, das Zusammenströmen von Verstand, Wille, Gemüt und Sinnen, in dem der Mensch seine Einheit und seine innere Richtung findet. Das "unbefleckte Herz" ist gemäß Mt 5,8 ein Herz, das ganz zu einer inneren Einheit von Gott her gefunden hat und daher "Gott sieht". "Devozione" (Verehrung) zum Unbefleckten Herzen Mariens ist daher Zugehen auf diese Herzenshaltung, in der das "Fiat" - dein Wille geschehe - zur formenden Mitte der ganzen Existenz wird. Wenn jemand einwenden möchte, wir sollten doch nicht einen Menschen zwischen uns und Christus stellen, so ist daran zu erinnern, daß Paulus sich nicht scheut, zu seinen Gemeinden zu sagen: Ahmt mich nach (1 Kor 4,16; Phil 3,17; 1 Thess 1,6; 2 Thess 3,7.9). Am Apostel können sie konkret ablesen, was Nachfolge Christi heißt. Von wem aber könnten wir es über alle Zeiten hin besser erlernen als von der Mutter des Herrn?

So kommen wir endlich zu dem hier erstmals ungekürzt veröffentlichten dritten Teil des Geheimnisses von Fatima. Wie aus der vorangehenden Dokumentation hervorgeht, ist die Auslegung, die Kardinal Sodano in seiner Rede vom 13. Mai geboten hat, zuerst Schwester Lucia persönlich vorgelegt worden. Schwester Lucia hat dazu zunächst bemerkt, daß ihr das Gesicht, aber nicht seine Auslegung geschenkt wurde. Die Auslegung komme nicht dem Seher, sondern der Kirche zu. Sie hat aber nach der Lektüre des Textes gesagt, daß diese Auslegung dem entspricht, was sie erfahren hatte und daß sie von ihrer Seite diese Interpretation als sachgerecht anerkennt. Im folgenden kann also nur noch versucht werden, diese Auslegung von den bisher entwickelten Maßstäben her zu begründen und zu vertiefen.
Wie wir als Schlüsselwort des ersten und zweiten Geheimnisses "salvare le anime" (die Seelen retten) erkannten, so ist das Schlüsselwort dieses Geheimnisses der dreimalige Ruf: "Penitenza, Penitenza, Penitenza" (Buße, Buße, Buße)! Wir werden an den Anfang des Evangeliums erinnert: "Tut Buße und glaubt an das Evangelium" (Mk 1,15). Die Zeichen der Zeit verstehen heißt: Die Dringlichkeit von Buße - Umkehr - Glaube begreifen. Das ist die richtige Antwort auf den historischen Augenblick, der von großen Gefahren umstellt ist, die in den folgenden Bildern gezeichnet werden. Ich darf hier eine persönliche Erinnerung einflechten: In einem Gespräch mit mir hat Schwester Lucia mir gesagt, ihr werde immer mehr deutlich, daß das Ziel der ganzen Erscheinungen gewesen sei, mehr in Glaube, Hoffnung und Liebe einzuüben - alles andere sei nur Hinführung dazu.

Gehen wir nun etwas näher auf die einzelnen Bilder ein. Der Engel mit dem Flammenschwert zur Linken der Muttergottes erinnert an ähnliche Bilder der Geheimen Offenbarung. Er stellt die Gerichtsdrohung dar, unter der die Welt steht. Daß sie in einem Flammenmeer verbrennen könnte, erscheint heute keineswegs mehr als bloße Fantasie: Der Mensch selbst hat das Flammenschwert mit seinen Erfindungen bereitgestellt. Die Vision zeigt dann die Gegenkraft zur Macht der Zerstörung - zum einen den Glanz der Muttergottes, zum anderen, gleichsam aus ihm hervorkommend, den Ruf zur Buße. Damit wird das Moment der Freiheit des Menschen ins Spiel gebracht: Die Zukunft ist keineswegs unabänderlich determiniert, und das Bild, das die Kinder sahen, ist kein im voraus aufgenommener Film des Künftigen, an dem nichts mehr geändert werden könnte. Die ganze Schauung ergeht überhaupt nur, um die Freiheit auf den Plan zu rufen und sie ins Positive zu wenden. Der Sinn der Schauung ist es eben nicht, einen Film über die unabänderlich fixierte Zukunft zu zeigen. Ihr Sinn ist genau umgekehrt, die Kräfte der Veränderung zum Guten hin zu mobilisieren. Deswegen gehen fatalistische Deutungen des Geheimnisses völlig an der Sache vorbei, die zum Beispiel sagen, der Attentäter vom 13. Mai 1981 sei nun einmal ein von der Vorsehung gelenktes Werkzeug göttlichen Planens gewesen und habe daher gar nicht frei handeln können, oder was sonst an ähnlichen Ideen umläuft. Die Vision spricht vielmehr von Gefährdungen und vom Weg der Heilung.
Die folgenden Sätze des Textes lassen den Bildcharakter der Schauung noch einmal sehr deutlich werden: Gott bleibt das unmeßbare und all unser Sehen überschreitende Licht. Die Menschen erscheinen wie in einem Spiegel. Diese innere Einschränkung der Vision, deren Grenzen hier anschaulich angegeben werden, müssen wir fortwährend gegenwärtig halten. Das Künftige zeigt sich nur "in Spiegel und Gleichnis" (vgl. 1 Kor 13,12). Wenden wir uns nun den einzelnen Bildern zu, die in dem Text des Geheimnisses folgen. Der Ort des Geschehens wird mit drei Symbolen beschrieben: ein steiler Berg, eine halb in Trümmern liegende große Stadt und schließlich ein gewaltiges Kreuz aus unbehauenen Stücken. Berg und Stadt symbolisieren die Orte der menschlichen Geschichte: Geschichte als mühevollen Aufstieg zur Höhe, Geschichte als Ort menschlichen Bauens und Zusammenlebens, zugleich als Ort der Zerstörungen, in denen der Mensch sein eigenes Werk vernichtet. Die Stadt kann Ort der Gemeinsamkeit und des Fortschritts, aber auch Ort der Gefährdung und der äußersten Bedrohung sein. Auf dem Berg steht das Kreuz - Ziel und Orientierungspunkt der Geschichte. Im Kreuz ist die Zerstörung in Rettung umgewandelt; es steht als Zeichen der Not der Geschichte und als Verheißung über ihr.

Dann erscheinen da menschliche Personen: Der weißgekleidete Bischof ("wir hatten die Ahnung, daß es der Papst war"), weitere Bischöfe, Priester, Ordensleute und schließlich Männer und Frauen aus allen Klassen und Ständen. Der Papst geht offenbar den anderen voraus, zitternd und leidend ob all der Schrecken, die ihn umgeben. Nicht nur die Häuser der Stadt liegen teils in Trümmern - sein Weg führt an den Leichen der Getöteten vorbei. Der Weg der Kirche wird so als ein Kreuzweg, als Weg in einer Zeit der Gewalt, der Zerstörungen und der Verfolgungen geschildert. Man darf in diesem Bild die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts abgebildet finden. Wie die Orte der Erde in den beiden Bildern von Berg und Stadt zusammengeschaut und auf das Kreuz hingeordnet sind, so sind auch die Zeiten zusammengezogen: In der Schau können wir das abgelaufene Jahrhundert als Jahrhundert der Martyrer, als Jahrhundert der Leiden und der Verfolgungen der Kirche, als das Jahrhundert der Weltkriege und vieler lokaler Kriege erkennen, die die ganze zweite Hälfte des Jahrhunderts ausgefüllt und neue Formen der Grausamkeit hervorgebracht haben. Im "Spiegel" dieser Vision sehen wir die Blutzeugen von Jahrzehnten vorüberziehen. Hier scheint es angebracht, einen Satz aus dem Brief anzuführen, den Schwester Lucia am 12. Mai 1982 an den Heiligen Vater gerichtet hat: "Der dritte Teil des Geheimnisses bezieht sich auf die Worte Unserer Lieben Frau: "Wenn nicht, wird es (Rußland) seine Irrtümer über die Welt ausbreiten und Kriege und Verfolgungen der Kirche anstiften. Die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet werden".

Im Kreuzweg eines Jahrhunderts spielt die Figur des Papstes eine besondere Rolle. In seinem mühsamen Hinaufsteigen auf den Berg dürfen wir ruhig mehrere Päpste zusammengefaßt finden, die von Pius X. angefangen bis zum jetzigen Papst die Leiden des Jahrhunderts mittrugen und in ihnen auf dem Weg zum Kreuz voranzugehen sich mühten. Auf der Straße der Martyrer wird in der Vision auch der Papst ermordet. Mußte der Heilige Vater, als er sich nach dem Attentat vom 13. Mai 1981 den Text des dritten Geheimnisses vorlegen ließ, darin nicht sein eigenes Geschick erkennen? Er war sehr nahe an der Grenze des Todes gewesen und hat selber seine Rettung mit den folgenden Worten gedeutet: "...es war eine mütterliche Hand, die die Flugbahn der Kugel leitete und es dem Papst, der mit dem Tode rang, erlaubte, an der Schwelle des Todes stehenzubleiben" (13. Mai 1994). Daß da eine "mano materna" (mütterliche Hand) die tödliche Kugel doch noch anders geleitet hat, zeigt nur noch einmal, daß es kein unabänderliches Schicksal gibt, daß Glaube und Gebet Mächte sind, die in die Geschichte eingreifen können und daß am Ende das Gebet stärker ist als die Patronen, der Glaube mächtiger als Divisionen.

Der Schluß des Geheimnisses erinnert an Bilder, die Lucia in frommen Büchern gesehen haben mag und deren Inhalt aus frühen Einsichten des Glaubens geschöpft ist. Es ist ein tröstendes Bild, das eine Geschichte aus Blut und Tränen durchsichtig machen will auf Gottes heilende Macht. Engel fangen unter den Kreuzarmen das Martyrerblut auf und tränken damit die Seelen, die sich auf den Weg zu Gott machen. Das Blut Christi und das Blut der Martyrer werden hier zusammengeschaut: Das Blut der Martyrer fließt aus den Armen des Kreuzes. Ihr Martyrium gehört mit dem Leiden Christi zusammen, ist mit diesem eins geworden. Sie ergänzen für den Leib Christi, was an seinen Leiden noch fehlt (Kol 1,24). Ihr Leben ist selbst Eucharistie geworden, eingegangen in das Mysterium des gestorbenen Weizenkorns und nimmt an dessen Fruchtbarkeit teil. Das Blut der Martyrer ist Samen christlicher Existenz, hat Tertullian gesagt. Wie aus dem Tode Christi, aus seiner geöffneten Seite, die Kirche entsprungen ist, so ist das Sterben der Zeugen fruchtbar für das weitere Leben der Kirche. Die an ihrem Anfang so bedrückende Vision des dritten Geheimnisses schließt also mit einem Bild der Hoffnung: Kein Leiden ist umsonst, und gerade eine leidende Kirche, eine Kirche der Martyrer, wird zum Wegzeichen auf der Suche der Menschen nach Gott. In Gottes guten Händen sind nicht nur die Leidenden geborgen wie Lazarus, der den großen Trost fand und geheimnisvoll Christus darstellt, der zum armen Lazarus für uns werden wollte; mehr als das: Vom Leiden der Zeugen kommt eine Kraft der Reinigung und der Erneuerung, weil es Vergegenwärtigung von Christi eigenem Leiden ist und seine heilende Wirkung an die Gegenwart weiterreicht.

Damit sind wir bei einer letzten Frage angelangt: Was hat das Geheimnis von Fatima als ganzes (in seinen drei Teilen) zu bedeuten? Was sagt es uns? Zunächst müssen wir mit Kardinal Sodano festhalten, daß "...die Geschehnisse, auf die sich der dritte Teil des Geheimnisses von Fatima bezieht, nunmehr der Vergangenheit anzugehören scheinen...". Soweit einzelne Ereignisse dargestellt werden, gehören sie nun der Vergangenheit an: Wer auf aufregende apokalyptische Enthüllungen über das Weltende oder den weiteren Verlauf der Geschichte gewartet hatte, muß enttäuscht sein. Solche Stillungen unserer Neugier bietet uns Fatima nicht, wie denn überhaupt der christliche Glaube nicht Futter für unsere Neugierde sein will und kann. Was bleibt, haben wir gleich zu Beginn unserer Überlegungen über den Text des Geheimnisses gesehen: die Führung zum Gebet als Weg zur "Rettung der Seelen" und im gleichen Sinn der Hinweis auf Buße und Bekehrung.
Ich möchte am Ende noch ein weiteres mit Recht berühmt gewordenes Stichwort des Geheimnisses aufgreifen: "Mein Unbeflecktes Herz wird siegen". Was heißt das? Das für Gott geöffnete, durch das Hinschauen auf Gott rein gewordene Herz ist stärker als Gewehre und Waffen aller Art. Das "Fiat" Marias, das Wort ihres Herzens, hat die Weltgeschichte gewendet, weil es den Retter eingelassen hat in diese Welt - weil im Raum dieses Ja Gott Mensch werden konnte und es nun ewig bleibt. Das Böse hat Macht in der Welt, wir sehen es und erfahren es immer wieder; es hat Macht, weil unsere Freiheit sich immer wieder von Gott abdrängen läßt. Aber seit Gott selbst ein menschliches Herz hat und so die Freiheit des Menschen ins Gute hinein, auf Gott zu, gewendet hat, hat die Freiheit zum Bösen nicht mehr das letzte Wort. Seitdem gilt: "In der Welt werdet ihr Drangsal haben, aber seid nur getrost, ich habe die Welt überwunden" (Joh 16,33).
Dieser Verheißung uns anzuvertrauen, lädt uns die Botschaft von Fatima ein.


JOSEPH Kard. RATZINGER

Präfekt
der Kongregation für die Glaubenslehre



(1) Aus dem Tagebuch von Johannes XXIII, 17. August 1959: "Audienzen: P. Philippe, Kommissar des Heiligen Offiziums, der mir den Brief überbringt, der den dritten Teil der Geheimnisse von Fatima enthält. Ich behalte mir vor, ihn mit meinem Beichtvater zu lesen".
(2) Es ist auf den Kommentar zu verweisen, den der Heilige Vater bei der Generalaudienz am 14. Oktober 1981 über "Das Ereignis vom Mai: eine große göttliche Prüfung" gegeben hat, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, IV, 2, Città del Vaticano 1981, 409?412.
(3) Radiobotschaft während des Gottesdienstes in der Basilika Santa Maria Maggiore, Verehrung, Dank und Vertrauensakt an die Jungfrau und Gottesmutter Maria, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, IV, 1, Città del Vatica no 1981, 1246.
(4) Am Tag der Familie im Rahmen des Jubeljahres vertraut der Papst die Menschen und die Nationen der Madonna an, in: Insegnamenti di Giovanni Paolo II, VII, 1, Città del Vaticano 1984, 775-777.
(6) In der vierten Erinnerung vom 8. Dezember 1941 schreibt Schwester Lucia: "Ich beginne also meine neue Aufgabe und ich erfülle den Befehl Eurer Exzellenz und die Wünsche von Dr. Galamba. Ich werde Ihnen alles sagen, ausgenommen einen Teil des Geheimnisses, den mir jetzt zu offenbaren nicht erlaubt ist. Bewußt werde ich nichts auslassen. Möglicherweise vergesse ich manche Einzelheiten, die aber nicht wichtig sind".
(7) In der zitierten "vierten Erinnerung" fügt Schwester Lucia an: "In Portugal wird man stets das Dogma des Glaubens bewahren, usw".
(8) In der Übersetzung wurde der Originaltext auch in den Ungenauigkeiten der Interpunktion geachtet. Diese behindern übrigens das Verständnis dessen, was die Seherin sagen wollte, nicht.



 
 
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü